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Nun bin ich schon einunddreißig Jahre alt. Der frische Übergang aus den Zwanzigern in die Dreißiger liegt also ein Jahr zurück. Vielleicht brauchte die Kernfrage, was ich mir jetzt in meinen Dreißigern wünsche, diese Zeitspanne zum Gedeihen.
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Den heutigen Tag habe ich ganz für mich. Dank unserer Haushaltshilfe ist die Wohnung seit gestern wieder blitzsauber. Die Spülmaschine räumte ich am Morgen aus und sich für gewöhnlich im Flur stapelnde Briefe/Zettel sind abgeheftet oder weggeworfen. Es gibt keine notwendig zu erledigenden Aufgaben, keine Arbeit steht an. Was ich mit dieser Freiheit inhaltlich anfange, kann ich also aus freien Stücken entscheiden. Unweigerlich stellt sich die Frage: Was will ich jetzt tun? Folgende Optionen kommen mir in den Sinn:
- dem Programmieren frönen, sei es ehrenamtlich oder freiberuflich
- mich anderweitig karrierefördernd weiterbilden
- etwas kapitalistisch Unverwertbares tun, um meinen Träumen näher zu kommen
Programmieren: Leidenschaft vs. Existenzsicherung
Rückblickend stellte ich mir in den letzten Jahren selten die Frage, was ich in solchen Momenten tun solle. In den allermeisten Fällen entschied ich mich, gleichbleibend einem Automatismus, für das Coden. Denn zum einen erfüllt es mich mit Neugierde und Kreativität. Zum anderen kann ich damit aber auch meiner Existenzangst entgegenwirken.
Eine tief sitzende Existenzangst treibt mich schon mein Leben lang um. Ich kann sie mal mehr, mal weniger gut bewältigen. Während des Studiums konnte ich sie unter dem Mantel des strikten Semesterablaufs verstecken. Mit dem Quereinstieg 2018 als Entwickler wurde sie omnipräsent, denn meine Produktivität beeinflusst direkt und indirekt mein Einkommen.
Damit beantwortete sich die Frage für mich bis zum letzten Jahr von selbst: So viel Zeit wie möglich galt es in Projekte zu stecken, um meine Existenz zu sichern. Sei es für Humankapital (ehrenamtliche Arbeit auf GitHub schult und lässt mich gleichzeitig mein Portfolio ausbauen) oder durch Ansparen und Investieren (#rentenlücke) von freiberuflichen sowie nicht selbstständigen Einkünften.
Meine generalisierte Angst, den Alltag finanziell nicht bewältigen zu können oder meine Berufung nicht weiter ausleben zu können, wird zur (unfreiwilligen) Motivation, die eine starke Schaffenskraft auslösen kann. Mit anderen Worten: Ich unterliege öfter dieser Angst.
Es mangelt nicht an Projekt-Ideen (initiativ für meine Lohnarbeit bei Finanzfluss oder freiberuflich) oder offenen GitHub-Issues (ehrenamtlich). Es gibt immer etwas zu programmieren. Realistisch gesehen besteht jedoch kein erreichbarer Endpunkt, an dem alle Ideen umgesetzt werden können. Deshalb fällt es mir schwer, die Arbeitsfeder niederzulegen. Ab wann fühle ich mich sicher genug, um mir erlauben zu können, anderen Hobbys nachzugehen zu „dürfen“?
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Freizeit erlauben lernen
Die Zielparameter, ab wann ich mich sattelfest fühle, muss ich selbst definieren. Sind es die Gesamteinkünfte, ist es der Jobtitel oder etwas ganz anderes?
Theoretisch kann ich mit wachsenden Einkünften auch mehr investieren, mich also weiter gegen Arbeitslosigkeit und im Alter absichern. Die imaginäre Summe der „Endabsicherung“ würde endlos steigen. Auf diesen Parameter kann ich nicht bauen.
Auf Jobtitel möchte ich mich nicht verlassen. Gerade in der Entwicklerbranche schwankt deren Bedeutung je nach Unternehmen und Sparte. Fähigkeiten müssen stetig neu evaluiert werden – ein Titel fühlt sich nicht beständig an. Dennoch: Mit der Beförderung zum Senior Developer in diesem Jahr habe ich als Quereinsteiger einen Meilenstein erreicht. Auch wenn es nur ein Titel ist, gibt er mir doch ein Stück weit Halt. Hinzu kommt die starke Integration ins Team bei Finanzfluss. Insgesamt fühle ich mich in meinem Job wohler und sicherer als je zuvor.
Ich möchte an den Zielparametern nicht länger schrauben und darauf warten, sie zu erreichen. Sondern jetzt lernen, innezuhalten. Ich möchte vertrauen, in meinem Floß vom Strom der Existenzsicherung ans Ufer fahren zu können, ohne bangen zu müssen, dass das Wasser versiegt oder dass ich an der Stromschnelle beim Weiterfahren kentern könnte.
Als in der Kindheit Langeweile keine Rarität war
Eine meiner ersten Erinnerungen an eine Art Reflexion der Lebensrealität erlebte ich im Alter von acht Jahren. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie ein vermeintlich alltäglicher Prozess für eine andere Person etwas anderes bedeuten kann.
Ein Onkel war bei meinen Eltern zu Besuch. An einem der Tage spazierten er und ich aus dem Dorf hinaus in Richtung Feld. Mir war an diesem Tag ziemlich langweilig, was ich missmutig mitteilte. „Langeweile“, meint er, „hatte ich schon lange nicht mehr. Ich wünsche mir mal wieder Langeweile.“ Diese Perspektive war mir gänzlich neu. Ich hatte also etwas, was mein Onkel sich wünschte. Noch verrückter, Langeweile, die meinen Unmut nährte, sollte etwas Besonderes sein? Im Nachhinein schätze ich, wie sehr mein Onkel mit mir in kindlicher Sprache und auf Augenhöhe kommunizierte.
Als Erwachsener kenne ich seine Vorstellung vom Alltagsstrudel und verstehe die Sehnsucht nach Langeweile. Ich möchte sie neu spüren lernen und trainieren. Je weniger Stress der Existenzsicherung mich befängt, desto mehr Langeweile wird mir zuteil. Je mehr Langeweile, desto mehr kann ich spielerisch kreativ sein. Das wünsche ich mir.
Balance zwischen Existenzsicherung und Freizeit
Im letzten Herbst gelang es mir, meiner Leidenschaft, dem Filmemachen, nachzugehen. An einem verlängertem Wochenende und in den darauffolgenden Wochen für den Schnitt des Kurzfilms, konnte ich mich abseits vom Coden ausleben und im kreativen Prozess fallen lassen:
Ein gemeinsamer Familienurlaub ist selten und endlich. Der Drang, die Gelegenheit des letzten Jahres zu nutzen, sie zu bewahren und festzuhalten, war groß. Auch wenn über die Tage hinweg unklar war, ob die Aufnahmen und ein roter Faden gelingen würden. Im Prozess des Filmens fühlte ich mich frei. Genau dieses Gefühl wünsche ich mir für meine Dreißiger: freies, kreatives Schaffen.
An einem Tag wie heute möchte ich lernen, mich vom Druck der Existenzsicherung zu befreien und stattdessen Langeweile zuzulassen. Dann habe ich vielleicht auch mehr Raum für Kreativität. Sei es beim Filmen oder wie jetzt geraden beim Schreiben. Letzteres hat mit ein bisschen Anlauf sogar geklappt.
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