Wie ich lernte, meinen Anspruch auszutricksen
Vom
Seit letztem Monat veröffentliche ich Filmchen auf YouTube. Schau gerne vorbei. Das war’s auch schon. Tschüss!
Warte, das war’s schon?
Natürlich nicht. Wie in quasi jedem Film eines Comic-Helden verfilmenden Studios gibt es eine Vorgeschichte. Eine „Backstory“, den Ursprung allen Geschehens.
Filmemachen im Allgemeinen war bis dato ein ungelebter Traum. In meiner Studienzeit graste ich Unmengen an Videos ab, die mir die saftige Wiese YouTube bot – vom Storytelling über Ausrüstung, Belichtung, Farbprofilen bis Schnitt. Obwohl mir die Blüte der Maximen „gear doesn’t matter“ oder „just do it“ des Öfteren in der Nase kitzelten (als Beispiel sei Casey Neistat’s Guide to Filmmaking genannt), brauchte es bis jetzt, um mich von dem Gedanken eines technisch perfekten Bildes zu lösen und wirklich einfach loszulegen.
Filmemachen bedeutete fĂĽr mich vor allem Technik
Ich setzte mich mehr mit Software rund ums Verfassen von Drehbüchern auseinander, als lose Ideen in Skripten zu bündeln. Genauso verbrachte ich mehr Zeit mit Kamera-Sensoren, Objektiven und optimalen Einstellungen seitens Audio und Video, als den roten Aufnahmeknopf zu drücken und eine Annäherung an die Wirklichkeit digital festzuhalten. Jeder Frame sollte den cineastischen Look aufweisen: 24 Bilder pro Sekunde, bei offener Blende. Ich wollte reproduzieren, was unser Auge erlernte, als cineastisch zu definieren. Ich war gefangen in meinem Anspruch.
Als 2014 Sony die Alpha 7s veröffentlichte, war ich fasziniert von deren Low-Light-Performance. Damals hätte ich nicht ahnen können, wie Sony mit der Einführung ihrer Alpha-Reihe den Markt revolutionieren und mit vollformatigen spiegellosen Kameras den Spiegelreflexkameras den Rang ablaufen würde. An meinem zu niedrigen Schreibtisch in meinem zu kleinen Zimmer dem Betrübnis über mein Studium entfliehend, saugte ich jeden Erfahrungsbericht auf, um mein Verlangen nach eben dieser Kamera zu festigen. Würde ich mir sie kaufen, würde ich ganz sicher filmen können!
Als Student – mit entsprechend begrenzten finanziellen Ressourcen – nahm ich einen Kredit auf. Konsumentenkredite, auweia. Ja, es musste die Sony Alpha 7s sein – gepaart mit einem 35mm-Festbrennweiten-Objekt von Zeiss, selbstverständlich. Damals fühlte es sich an, den Beginn des Filmemachens endlich stemmen zu können, da ich technisch mithalten konnte.
Ein Kurzfilm entstand 2016 mit meinem Bruder für den Wettbewerb „Warum heute noch Brief?“, initiiert von der Deutschen Post. Im Nachhinein ein Wunder, dass es zu einer Einreichung kam, da ich mich in der Perfektionierung von Color-Grading und Schnitt beinahe verlor. Hätte ich ihn vor ein paar Jahren noch als cringe abgewertet, kann ich mittlerweile über das Werk schmunzeln. Online ist er nicht mehr zu finden. Vielleicht hebe ich ihn mir für ein „Reaction“-Video für späteren Tage auf?
Was habe ich zu erzählen?
Es blieb bei dem einen Kurzfilm. Warum? Ein Grund liegt im beständigen, unerreichbaren Anspruch: Ich wollte große Gefühle erwecken. Geschichten erzählen, die in Momenten kulminieren, welche packen und berühren. Daran scheiterte ich. Zu viele Erwartungen kulminierten – in mir. Zu ungreifbar fühlten sich meine Ideen an. Zu schwierig wären sie umzusetzen gewesen. Aus dem Reigen des Alltags zu erzählen, erschien mir damals zu platt.
Eine weitere Entwicklung ließ das Filmen versiegen: mein Pharmaziestudium endete 2018 in einer Sackgasse (Platzhalter-Link für einen Bericht über das Gefühl des Scheiterns). Um Materialien für den Bau der Brücke zum Quereinstieg als Entwickler zu sammeln, verschob sich meine Motivation. Die mir verfügbaren Ressourcen steckte ich vollends in den Aufbau einer Basis, um den Traum des Programmierens als Beruf zu erreichen sowie meinen Existenzängsten zu entkommen.
Filmemachen verkroch sich im Schneckenhaus des Alltags, was sich erst dieses Jahr ändern sollte.
Von Vollformat zur Smartphone-Kamera
Du nimmst vielleicht auch vertikale Videos mit deinem Smartphone auf. Gegenüber dem Standbild befähigt mich das Bewegtbild, mehr Atmosphäre einzufangen. In der Niedrigschwelligkeit des Aufnehmens entstehen mehr Inhalte als mit meiner Kamera, obwohl jene technisch gesehen überragendere Ergebnisse erzielen würde. Kaum Einstellungsmöglichkeiten, keine Nachbearbeitung. „Die beste Kamera ist die, welche du immer dabei hast“ lautet eine weitere Maxime im Content-Universum. Zwar präferiere ich für Fotografie nach wie vor meine Vollformatkamera (eine Sony Alpha 7C), zum Filmen hingegen genügt die Qualität des quadratischen alltäglichen Begleiters. Wieso greift hier nicht mein Anspruch?
Das Einfangen des Ordinären, des Alltags, und damit Anker für Erinnerungen zu schaffen, hat für mich höhere Priorität, als ein perfektes Bild zu erarbeiten. Was also wäre, wenn ich für eine Annäherung an das gemeine Bild von cineastisch mein Smartphone drehen würde? Ein querformatiges Bild entstünde. Doch der Look verrät unverkennbar, dass es sich eben um ein Smartphone handelt. Das gewisse Etwas fehlt.
Fun-Fact am Rande: Welche Fotos präferierst du – die eines iPhone-, Samsung- oder Google-Gerätes? In allen Smartphone werden die Sensoren einer Firma verbaut: von Sony. Die Farbgebung des entstandenen Bildes legt einzig Software fest.
Meinen Anspruch austricksen
Wie es sich für eine kapitalistische Weltordnung gehört, verschaffte mir ein Produkt das Glück, meinen Anspruch zu erreichen und zugleich auszutricksen. Mit einer in die Smartphonehülle integriertem Objektivbajonett kann mit den Objektiven von Moment die Bündelung des Lichts verändert werden, bevor das Bild die Smartphonekamera erreicht. Das anamorphotische 1.33×-Objektiv hat es mir besonders angetan – es versetzt mich in die Lage, einen cineastischen Look im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hosentasche zu ziehen. Die Niedrigschwelligkeit von „just do it“ bleibt bestehen.
Indem ich mich in die Grenzen des mit einer Smartphonekamera technisch Umsetzbaren begebe, sowie mit dem externen Objektiv die Möglichkeiten der Erweiterbarkeit ausschöpfe, kann mein Anspruch befriedigt werden. Auf Deutsch: Ich hole alles heraus, was geht.
Der Alltag erzählt, ich höre zu
Wenn sich eine Situation ergibt, in der ich den Raum zum Filmen spĂĽre, nehme ich Video-Schnipsel auf. Diesen Prozess empfinde ich nicht als trivial, da das Filmen selbst mir einen Teil der Wahrnehmung des Moments nimmt. Bei groĂźer Reizflut in neuen Umgebungen oder wenn ich einen schlechten Tag habe, entstehen auch keine Aufnahmen. So wie kein Film entsteht, wenn nicht genĂĽgend Aufnahmen vorhanden sind, um eine Geschichte daraus zu spinnen.
Irgendwie habe ich es geschafft, den Wunsch nach großen Erzählungen abzulegen: Das Filmen als Auseinandersetzung mit meiner Gegenwart und das Schneiden als Auseinandersetzung mit dem Erlebten zu verstehen. Ich spüre keine Erwartungshaltung, Zuschauer*innen zu bekommen, da mir das Filmen und Schneiden intrinsisch Freude bereitet und im Umkehrschluss spendet.
Danke an alle Menschen, die ich aufnehmen durfte!
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